My Lady ✦✦
Topuser
Anmeldedatum: 07.06.2009 Beiträge: 301 Wohnort: Berliner Norden
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Verfasst am: 19.10.2020 10:45 Uhr Titel: In neunzig Sekunden von null auf hundert |
Lesezeit: 2,17 Min |
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Eine kleine Anekdote in der Hoffnung, dass sie euch erheitert
Es ist zwei oder drei Jahre her. Wir sind gerade in unseren Motorradurlaub gestartet und hatten irgendwo im Harz in einem dieser schönen kleinen Orte mit Fachwerkhäusern übernachtet.
Die Sonne schien noch etwas träge durch das bunt werdende Laub der Bäume, es würde ein schöner Herbsttag werden. Gemächlich rollten wir durch den Ort; ich ließ meinen Blick schweifen, genoss den goldenen Morgen und das wohlige Gefühl, das ein gutes Frühstück im Bauch hinterlässt. Die Straße ist menschenleer, bis auf den jungen Mann, der mit seinem Hund Gassi geht.
Es ist ein Hund von der Sorte, mit der ich mein Bett nicht gern teilen würde: kniehoch, massiger Körper, keilförmiger Kopf, kurzes Fell und kleine Schweinsaugen – absolut nicht mein Typ. Er schnüffelt vor sich hin, während Herrchen recht müde hinter ihm her trottet.
Ich bin mit meiner Aufmerksamkeit schon woanders, da bemerke ich im Augenwinkel eine hektische Bewegung, und muss sofort laut lachen. Der Hund hatte sich samt Hundeleine losgerissen und unsere Verfolgung aufgenommen. Im Spiegel sehe ich Herrchen hektisch mit den Armen fuchteln, seine Lippen formen „Komm hierher“, es könnte aber auch „Du blödes Vieh“ heißen.
Der Hund aber galoppiert uns weiter nach. Die Ohren wippen auf und ab im Gleichtakt mit seiner riesigen rosa Zunge, hinter ihm schwingt wie eine Peitsche die Hundeleine auf und ab. Ich amüsiere mich köstlich und kichere vor mich hin. Herrchen hat mittlerweile aufgegeben und ist nur nur noch ein kleiner Strichpunkt in meinem Rückspiegel.
Da tut er mir plötzlich leid. Soll ich anhalten, um Hund und Herrchen wieder zusammen zu führen? Ich verwerfe den Gedanken sogleich, denn vor meinem inneren Auge bohren sich scharfe Zähne in meine Wade und zerren mich vom Motorrad. Nein, das ist keine gute Idee!
Das Kichern vergeht mir vollends, als ich die rote Baustellenampel vor uns bemerke. Es gibt nur eine Fahrbahn für beide Richtungen, und sie zeigt rot!
Nein, jetzt bloß nicht anhalten! Was mache ich jetzt? Stefan hat von dem Drama hinter uns scheinbar nichts mitbekommen. Ich rufe ihn über den Sprechfunk, es kommt keine Verbindung zustande! Ausgerechnet jetzt! Mist... Mist... Mist... Nun werde ich nervös.
Die Ampel zeigt noch immer rot, noch ein paar Meter, und wir müssen anhalten. Im Rückspiegel wackeln noch immer Ohren und Zunge, dahinter tanzt wild die Hundeleine. Ich fange an zu schwitzen.
Es gibt nur eine Lösung: Stefan überholen, die rote Ampel ignorieren. Ich kann die Spur gut einsehen und es kommt niemand aus dem Gegenverkehr... Mein Herz klopft wild! Na gut, dann muss es eben so sein!
Ich riskiere einen letzten Blick in den Spiegel... und sehe eben noch, wie der Hund in der abgehenden Seitenstraße verschwindet. Auch Herrchen ist nicht mehr zu entdecken, die Straße ist wieder menschenleer. Es ist fast so, als hätte ich mir die letzten neunzig Sekunden nur eingebildet... Ich glaube, ich habe die ganze Zeit die Luft angehalten...
„Alles in Ordnung?“ höre ich plötzlich Stefan's Stimme in meinem Helm summen, und meine Atmung setzt wieder ein.
Ja, alles bestens! _________________ Ob eine schwarze Katze Unglück bringt hängt davon ab, ob man ein Mensch ist oder eine Maus. |
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