Ron ✦✦✦✦
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Tourguide
Anmeldedatum: 07.01.2007 Beiträge: 5604 Wohnort: Ofenstadt Velten
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Verfasst am: 02.01.2017 17:08 Uhr Titel: |
Lesezeit: 6,66 Min |
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Der schwedische Koffer
Die BMW-Garmisch-Days sind nicht nur eine gute Gelegenheit, das Neueste in Sachen Motorrad-Technik kennen zu lernen. Wenn sich 20-30 tausend Motorradfahrer treffen, dann ist auch immer genügend Partylaune vorhanden, um ein richtig schönes Wochenende zu verleben.
Damit aber genug der Werbung.
Eine weitere Gelegenheit ist dabei nämlich auch immer der Abstecher in die angrenzenden Alpen.
Anders wäre die weite Anfahrt von Berlin über München nach Garmisch-Partenkirchen wohl auch nicht zu rechtfertigen, als dass man daraus gleich eine komplette Reise macht. Und wenn sich schnell nette Kontakte ergeben, dann steht natürlich auch einer gemeinsamen Ausfahrt vor Ort nichts im Wege.
So kam es also, dass wir an einem warmen und sonnigen Juli-Tag in den Vorderalpen schon auf österreichischer Seite in einer kleinen Gruppe von vier Maschinen Kurven räuberten. Allesamt waren wir auf GS’en der verschiedensten Baujahre unterwegs. Von einer „echten“ 100er GS über die Vierventiler-Generation der 1100er, 1150er bis zur damals neuen 1200er, die ich mein Eigen nennen durfte. Ich fuhr an dritter Stelle und so wurde ich Zeuge der folgenden Szene: mitten in einem Waldgebiet klopfte die Sozia unseres Tourenguides ihrem Göttergatten plötzlich kräftig auf die Schulter und gab ihm heftig gestikulierend unmissverständliche Order, dass er doch gefälligst wenden und zurück fahren möge. So legte unser Grüppchen eine Kehrtwende ein und alle Fahrer fragten sich, was sie alle offenbar übersehen haben mussten und nur dem entspannten Blick einer Sozia nicht verborgen blieb.
Sie dirigierte ihren Chauffeur etwa einen Kilometer zurück zu einem kleinen Parkplatz. Genau genommen war das kein Parkplatz sondern eher eine neben der asphaltierten Straße gelegene, mit Schotter überzogene Nothalte-Bucht von etwa dreißig Metern Länge und etwa zehn Metern Breite. Was wir alle nicht gesehen hatten, war, dass dort mitten auf dem kleinen Platz ein Motorrad-Koffer lag. Es war nicht erkennbar, ob es sich um einen Seitenkoffer oder um ein Topcase handeln würde, denn die Halterung war nicht mehr auszumachen. An den Seiten konnte man die abgebrochene Aufhängung erkennen. Wir gerieten ein wenig in Panik. Was sollte wohl ein Koffer so allein auf weiter Flur machen? Noch dazu beschädigt. Sollte das Schicksal wirklich so grausam gewesen sein und es sich hier über den Überrest eines Unfalls handeln? Denn nur zur Erinnerung: wir befanden uns in den Bergen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Unfall unbemerkt bliebe, weil das verunfallte Fahrzeug abseits der Straße einen senkrechten Abgang gemacht hätte.
Wir befürchteten also das Schlimmste! Unser erster Weg führte uns dann zum Abhang des Berges, der gleich hinter dem Schotterplatz kam. Laut rufend stapften wir den steilen Abhang hinunter, so gut es mit den schweren Stiefeln nur möglich war. Vor dem geistigen Auge sah ich schon das kaputte Motorrad mit seinem verletzten Fahrer. Aber dieser Anblick blieb uns erspart. Weder reagierte irgendjemand auf unsere Rufe, noch war optisch auch nur der kleinste Hinweis auf einen Unfall auszumachen.
Also hieß es zurück – oder besser: wieder hinauf – zum Schotterplatz. Wir wollten den Koffer jetzt genauer inspizieren. Überraschenderweise ließ er sich auch leicht öffnen. Es gab zwar ein Schloss aber offenbar war der Besitzer in dieser Frage nachlässig genug und ließ es unverschlossen, so dass wir nun kein weiteres Hindernis zu meistern hatten. Wir öffneten den Koffer, wühlten uns durch ein paar Wäschestücke und förderten zwei rosafarbene Reisepässe zu Tage. So hatten wir also gleich das Paar vor Augen, das jetzt wohl kofferlos unterwegs sein musste. Es handelte sich um zwei junge Schweden. Die Reisepässe waren aber nicht alles, was wir fanden. In einer Klarsichthülle und in der unverwechselbaren Optik einer ausgedruckten Outlook-eMail fanden wir den Schriftverkehr, in dem ein Reisebüro seinen Kunden einen detaillierten Reiseplan schickte, aus dem für jeden Tag der Reise das Hotel mit seiner konkreten Anschrift hervorging. Ein Blick diese Liste hinab beschied uns also, wo das Paar hin wollte, wo sie genau heute übernachten würden.
Mit der neuen BMW hatte ich mir damals auch den Luxus eines Motorrad-Navigationsgerätes geleistet. Damals noch eine horrend teure Angelegenheit, sollte das gute Stück nun sein Können beweisen. Ich tippte die Adresse des in Österreich liegenden Hotels ein und wählte die Option der kürzesten Strecke und vernahm nach einer kleinen Rechenpause, dass die Fahrt gerade einmal 35 Kilometer hätte und wir in einer halben Stunde dort sein sollten.
Soweit also prima. Blieb nur noch ein Problem: wie sollten wir den defekten Koffer verstauen? Da tat uns der Zufall einen Gefallen: er schickte uns genau in diesem Augenblick einen Traktor vorbei, dessen Fahrer uns fragen wollte, ob es uns denn gut ginge, denn man sei es in der Gegend gewöhnt, dass eine angehaltene Gruppe Motorradfahrer zumeist Übles befürchten lässt. Wir erklärten dem Landwirt unsere Situation und dass es nun darum ginge, den Koffer ohne Halterung auf einer unserer Maschinen zu befestigen. Er reichte uns ein paar feste Schnüre, mehr war nicht an Bord. So knoteten wir diese vielen dünnen Strippen wie ein Spinnennetz um den Koffer herum und befestigten ihn auf dem „Thron“ (dem Heck einer 12er GS) halbwegs so, dass er nicht gleich herunterfliegen würde, wenn man einmal Gas geben würde. So zusammen geschustert konnten wir dann unsere Fahrt antreten.
Übrigens sei nach mehreren Jahren mit Navi-Erfahrung davon abgeraten, in den Bergen die Option „kürzester Weg“ zu wählen. Das kann oftmals wirklich abenteuerlich werden. An diesem Tag war es jedoch nicht so. Wir fuhren auf kleinen, abseits gelegenen Straßen dem Hotel entgegen. Wir passierten dabei einsam gelegene Plätze, die eine tolle Aussicht boten und das Schönste war, dass wir praktisch keinen anderen Verkehr mehr beachten mussten, denn während alle anderen Auto- und Motorradfahrer auf den Hauptstraßen blieben, waren wir auf unserer Nebenstrecke ganz allein unterwegs. So erreichten wir dann bald das Ziel, das Navi behielt mit seiner Prognose Recht. Nach etwa einer halben Stunde standen wir vor dem Hotel.
Hier hielten wir nun Ausschau. Mit den beiden Pässen in der Hand guckte ich mich um, ob ich die junge Frau und ihren Freund (verheiratet konnten sie laut Pass nicht sein) erkennen würde. Aber weit und breit war kein auch nur ansatzweise dem ähnelnder Mensch auszumachen. Auch der Blick auf den Parkplatz vor und hinter dem Hotel, auf der Suche nach Motorrädern mit schwedischem Kennzeichen, blieb erfolglos.
Als wir da so ratlos umherstanden und schon überlegten, ob wir den Koffer einfach beim Wirt abgeben sollten, vernahmen wir mit einem Mal Motorengeräusche. Wir blickten dem Verband von fünf Maschinen entgegen, ließen ihn an uns vorbeifahren, so dass wir ihm auf die Kennzeichen schauen konnten und siehe da: alles waschechte Schweden. Da hatte es der fliegende Koffer also tatsächlich geschafft, noch vor seinem Besitzer am Hotel einzutreffen!
Als die Gruppe beim Absteigen von den Maschinen war, machte ich sofort das Pärchen aus, das um einen Koffer ärmer war. Ein Blick genügte: die beiden Seitenkoffer waren tatsächlich noch dran, aber das Topcase hatte einen Abflug gemacht. So jedenfalls verkündete es die einsam zurück gelassene Halterungs-Platte. So baute ich mich vor dem verdutzt schauenden Fahrer auf, blickte ihm fest in die Augen, hob in klassischer Grepo-Manier (so nannte man als alter West-Berliner die Grenzposten der DDR, die die Ausweiskontrollen durchführten) den Reisepass zwischen uns auf Augenhöhe, so dass ich mit gespielt ernstem Gesichtsausdruck und ohne den Kopf bewegen zu müssen, den Blick wandern lassen konnte von Schwede zu schwedischem Pass und wieder zurück, und noch einmal hin, noch einmal zurück und noch einmal hin. Mit tiefer Stimme grollte ich dem Fireblade-Fahrer (ein Hoch auf die biegsame Sozia) noch entgegen: „Is it really You?“ und endlich schien er den Spaß zu begreifen, dass ich mit den verloren geglaubten Reisepässen vor ihm stand. Jedenfalls entspannte sich seine anfangs ernste Mimik und ich deutete ihm hinüber zu meiner Maschine, wo sein Koffer unter einem Dickicht von dünnen Schnüren klar erkennbar war.
In Touristen-Englisch tauschten wir uns weiter aus. Ich erzählte ihm vom Auffinden und Herbringen des Koffers, während er mir davon erzählte, wie es passierte. Oder besser gesagt, wie es aller Wahrscheinlichkeit nach passiert sein musste. Denn von dem Vorgang selbst hatte er – genauso wenig wie seine Sozia – gar nichts mitbekommen. Er fuhr an letzter Position in der Gruppe und so gab es weder Augen- noch Ohrenzeugen von dem Geschehen. Nur, dass seine Sozia eben irgendwann bei einem Stopp in irgendeiner kleinen Stadt plötzlich bemerkte, dass es am Rücken doch etwas luftiger und kühler geworden sei so ganz direkt dem Fahrtwind ausgesetzt. Seiner Wortwahl konnte man zwischen den Zeilen entnehmen, dass es mit der unachtsamen Sozia wohl inzwischen eine aufschlussreiche Diskussion gegeben haben musste. Jedenfalls, weil man nicht mehr genau wusste, welchen Weg man genommen hatte, machte es keinen Sinn, umzukehren und den Koffer zu suchen. So beschloss man, weiter zur Unterkunft zu fahren und das Beste zu hoffen. Na ja, das Beste war dann ja wohl auch eingetreten.
Der Wirt des Hotels hatte die Sache inzwischen mitbekommen. Zum Dank dafür, dass wir so gut für seine Gäste gesorgt hatten, lud er uns alle zu Kaffee und Kuchen ein. So konnten wir unseren Plausch noch ein wenig weiter fortsetzen, bevor wir uns voneinander verabschiedeten und selbst wieder der deutschen Alpen-Seite zusteuerten.
Fazit: die Sozia traf keine Schuld! Wer es schafft, auf einer Fireblade auf dem Sitzbrötchen Platz zu nehmen, dabei die Knie bis zu den Ohren hoch zu ziehen, und sich den knappen Platz auch noch mit einem Topcase teilen muss, der ist auch so schon nicht mehr ganz zurechnungsfähig! Und das sollte einem routinierten Biker bewusst sein. Ist denn nicht das die Einstiegsqualifikationen der meisten Motorradfahrer? _________________ Wer nicht gelebt hat, der kann auch nicht sterben.
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